Zilli Schmidt

GOTT HAT MIT MIR ETWAS VORGEHABT ! ERINNERUNGEN EINER DEUTSCHEN SINTEZA

Gott hat mit mir etwas vorgehabt ... Ich bin nicht umsonst noch hier. Ich bin uralt, 95. So alt wird kaum jemand. Erst recht nicht, wenn einer das hinter sich hat, was ich hinter mir habe. Ich war in vielen Gefängnissen, ich weiß nicht mehr, in wie vielen genau. Ich war in drei Lagern. Eins davon war Auschwitz. Birkenau. Das Lager, das eigentlich nur zum Töten da war. Eine Kugel, die meinen Kopf treffen sollte, ging mir am Ohr vorbei. Von einer Liste, wo ich zum Vergasen draufstand, wurde mein Name gestrichen. Nicht ein-, zweimal! Es passierten noch mehr solche Sachen. Nach dem Krieg war ich einige Male krank – so schlimm krank, dass ich leicht daran hätte sterben können. Alle, die ich kannte, von früher, sind tot. Die meisten schon lange. Aber ich lebe noch. Ich bin immer noch hier.

Ich hatte Gott bei mir, schon immer. Er hat mit mir etwas vorgehabt: Jemand muss sagen, was sie mit den Sinti gemacht haben, damals, die Nazis. Das wissen viele heute immer noch nicht. Aber unsere Menschen sollen nicht vergessen werden. Erst spät habe ich angefangen, darüber zu sprechen, das alles zu sagen, was ich durchgemacht habe. Das war nicht leicht. Es hat aber auch keiner gefragt. Ich war schon fast 90 Jahre alt, als ich anfing, darüber zu sprechen, zu Fremden. Und jetzt wird es immer mehr, dass sie es wissen wollen. Das ist gut. Ich habe einen Auftrag. Solange ich noch hier bin, erzähle ich meine Geschichte und vergesse es auch nicht. Ich vergesse es nicht und erzähle meine Geschichte, bis ich meine Augen zumache und bin bei meinem Herrn.

Aus dem Buch "Die Erinnerungen der deutschen Sinteza Zilli Schmidt »Gott hat mit mir etwas vorgehabt!« als kostenloses E-Book und Druckausgabe in der Zeitzeugenreihe der Stiftung Denkmal.

 

Gespräch Zilli Schmidt mit Jana Mechelhoff-Herezi ab 15 Minute

Zilli Schmidt (*1924) stammt aus einer Familie deutscher Sinti. Zwischen 1943 und 1945 ist sie aus zwei Lagern geflohen, hat Auschwitz-Birkenau überlebt und dort fast ihre gesamte Familie verloren. Zilli ist eine der Letzten, die die nationalsozialistischen Gefängnisse und Lager als Erwachsene überlebt hat.

Die Erinnerungen der deutschen Sinteza Zilli Schmidt »Gott hat mit mir etwas vorgehabt!« erscheinen als kostenloses E-Book und Druckausgabe in der Zeitzeugenreihe der Stiftung Denkmal, herausgegeben von Jana Mechelhoff-Herezi und Uwe Neumärker – anlässlich des Welt-Roma-Tages am 8. April 2020.


Die Akte Zilli Reichmann

Autor Heiko Haumann - Zur Geschichte der Sinti im 20. Jahrhundert

Der Historiker Heiko Haumann beschreibt in ›Die Akte Zilli Reichmann‹ Lebenswelten und Kultur der Sinti anhand zahlreicher persönlicher Berichte. Auch Zilli Reichmann, die 1924 geboren wurde und Auschwitz überlebte, schilderte ihm ihre Erinnerungen. Am Beispiel ihrer Biographie beschreibt er den Alltag der Sinti und das Familienleben, aber auch die allgegenwärtige Diskriminierung, die polizeiliche Erfassung seit 1900 und die Verfolgung der Sinti während des Nationalsozialismus. Dabei entsteht auch ein umfassendes Bild von den Bedingungen und Beziehungen im »Zigeunerlager« von Auschwitz-Birkenau. Doch Heiko Haumann erzählt ebenso vom Fortwirken der Vorurteile nach 1945, vom langen Kampf um die Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus und vom Prozess des Sesshaftwerdens. 60.000 Sinti leben heute in Deutschland, fast alle führen ein sesshaftes, geregeltes Leben – doch die lange Geschichte der Abwertung und Diskriminierung prägt ihre Träume, Ängste und Erwartungen bis heute.

 

  • 368 Seiten
  • ISBN: 978-3-10-397210-8
  • Autor: Heiko Haumann
  • Verlag: S. FISCHER